Ich mache gerade wieder Nachtschicht, lese hier, und blieb am Thread "Wie geht ihr damit um?" hängen (die Beiträge zum Nikolaustag). Beim Beitrag von Chaosmam musste ich irgendwie schlucken.
Die folgende Geschichte geht zurück ins Jahr 1965 und hat damit eigentlich nichts zu tun. Aber hat irgendwie doch damit zu tun, in mancher Hinsicht -entfernt. (Und falls jemand fragt: Was davon ist wahr, was ist erfunden? Ca. 97% dieser Geschichte sind wahr, und etwa 3% sind 'verdichtet', um die Geschichte besser zu machen. Denn eine Geschichte ist auch immer nur eine Geschichte.)
Armut und Reichtum
Ich hatte eine Tante, die wohnte in einem fernen Land. Zum ersten Mal sah ich sie, als ich etwa 5 Jahre alt war und sie uns zum ersten (fast einzigen) Mal besuchte. In jeder Einzelheit ist mir das in Erinnerung geblieben, denn es war ganz besonders, wie ein schöner Traum.
Die fremde Tante, aus einem fernen Land, hatte mir große Schätze mitgebracht, die ich nie zuvor gesehen hatte: duftende Orangen, herrliche Bananen, wunderbare Schokolade in bunt-glänzender Verpackung, und einen riesigen, unglaublich schönen Tuschkasten. Auch eine neue, schicke Jacke. Ich war überwältigt und konnte es kaum fassen. Außerdem war sie freundlich, streichelte mir oft über den Kopf, fasste beim Spaziergang meine Hand an, erzählte froh und lachte die ganze Zeit. Während ihres kurzen Besuchs bei uns war alles ganz anders als sonst! Abends, als ich ins Bett ging, kam sie heimlich mit einem Maßband zu mir, um meine Füße zu messen. "Ich schicke dir bald auch schöne Schuhe", flüsterte sie dabei und lachte verschmitzt. Am Tag ihrer Abreise wurde ein Foto von mir gemacht, auf dem Hof hinter dem Haus, mit der neuen Jacke, es hat sich bis heute erhalten.
Beim Abschied auf dem Bahnhof, als der Zug vorgefahren war und sie in das Abteil einstieg, begann ich schrecklich zu heulen. Alle Leute blickten mich an. Da kam sie noch einmal aus dem Abteil heraus, drückte mich schnell und erinnerte mich an die neuen Schuhe, die sie bald schicken würde, ich sollte mich darauf freuen und nicht traurig sein. Der Schaffner pfiff, wir mussten uns trennen, der Zug fuhr ab. Das Taschentuch, mit dem sie aus dem Zugfenster winkte, wurde immer kleiner. Dann war es wieder nur noch neblig, still und kalt auf dem leeren Bahnsteig. Ich heulte leise weiter.
Es dauerte nicht lange, da kam das Päckchen mit den Schuhen. Sie waren toll und passten genau. Auch Buntstifte lagen dabei.
Während meiner ganzen Kindheit schickte mir die Tante Päckchen. Zu Ostern, zu Weihnachten, zum Geburtstag, und manchmal zwischendurch. Das waren die großen Lichtpunkte in dieser Zeit.
Ich dachte nie, dass wir 'arm' waren, denn all die anderen Leute in unserem Haus, in der Straße und dem ganzen Viertel lebten auch so wie wir. Außer Uwe, oben im dritten Stock, der hatte einen Roller. Lange beneidete ich ihn. Dann, da war ich etwa 7, schickte mir die Tante einen Roller! Der war so großartig, das Uwe vor Neid erblasste. Mein schicker Roller war der schönste im ganzen Viertel! Er war das ganz große Glück meiner Kindertage. Ich war nicht beliebt bei den anderen Kindern, aber der schicke Roller machte, dass ich Freunde fand. Ich dachte mir, dass diese Tante unglaublich reich sein muss, dort in ihrem fernen Land, weil sie mir so wunderbare Geschenke schickte. Bestimmt wohnte sie in einem riesigen Haus, einem Schloss, mit einem prächtigen Garten, anders konnte es gar nicht sein!
Es gab auch noch eine zweite Tante in diesem fernen Land. Eigentlich war sie irgendwie meine Oma, wie mir Mutter manchmal sagte. Die schickte niemals ein Geschenk, aber Postkarten zu Weihnachten und zum Geburtstag. Die waren mit winziger Schrift eng bekritzelt. Sie schrieb, das Porto für Postkarten sei billiger als für Briefe, sie müsste sparen und auf jeden Pfennig achten. Ich freute mich immer über ihre Karten, und später, als ich über 10 Jahre alt war und besser denken konnte, fühlte ich das Mitleid mit ihr, von dem, was sie schrieb, weil sie so arm war.
Sehr viele Jahre vergingen. Alles wurde anders, die Zeiten änderten sich.
Es kam die Zeit, als ich die Möglichkeit bekam, in das ferne Land zu reisen, wo die beiden Tanten wohnten. Da war ich längst kein Kind mehr, und sie waren schon sehr alt. Zuerst kam ich in die Stadt, wo die Postkarten-Oma lebte. Sie zeigte mir ihr großes Haus und den Garten mit Goldfischteich und einer Bronze-Statue. 'Dafür haben wir hart gearbeitet und gespart', meinte sie. Sie hatte erreicht, was sie wollte, aber nun war ihr Mann tot, sie selbst alt und nicht mehr so gesund, das Haus und der Garten waren zu groß für sie, und nutzlos. Sie dachte daran, in einen Seniorenstift umzuziehen.
Dann besuchte ich meine reiche Tante. Sie lebte in einer winzigen Einraumwohnung im 9.Stock eines aschgrauen Hochhausblocks. Die wenigen Möbel so ärmlich und alt. Sie war so glücklich über meinen Besuch.
Wir erzählten lange und viel, ich wollte alles von ihr wissen, was ich sie als Kind niemals fragen konnte. Sie erzählte, dass sie früher Verkäuferin auf dem Wochenmarkt war, sie zog einen Handwagen und verkaufte am Marktplatz, zusammen mit meinem Opa, den ich nie gesehen hatte. Sie verdienten nicht viel. Eigentlich sehr wenig. Ich erzählte ihr, wie ich als Kind immer dachte, dass sie unendlich reich sei und in einem Schloss wohnte. Sie lachte."Ich hätte dir so gern noch viel mehr gegeben, wenn ich nur gekonnt hätte, denn wir wussten ja, wie es dir erging. Am liebsten hätte ich dich mitgenommen, aber das ging ja nicht. Trotzdem habe ich immer an dich gedacht, dass musst mir glauben!" sagte sie, als wollte sie sich entschuldigen.
Da saß sie, die alte Frau, in ihrem alten Sessel in dem winzigen Zimmer, und ich merkte, wie plötzlich Tränen in meine Augen kamen, obwohl ich längst kein Kind mehr war.